Auslauf für alle Tiere

Die Schweiz gilt als Land der grünen Wiesen, der grasenden Kühe und der sonnenbeschienenen Alpwirtschaft. Unser Selbstbild ist geprägt von offenen Landschaften, Tieren, die im Freien leben, und einer Landwirtschaft, die im Einklang mit der Natur steht. Doch diese Vorstellung täuscht. In der Realität verbringen die meisten landwirtschaftlich gehaltenen Tiere ihr ganzes Leben im Stall – ohne Sonnenlicht, ohne frische Luft, ohne Platz zur freien Bewegung.

Jedes Jahr leben über 80 Millionen Tiere in der Schweizer Landwirtschaft. Offiziell heisst es, rund 80 Prozent von ihnen hätten regelmässigen Auslauf. Doch diese Zahl verschleiert die Realität. Gezählt wird nicht nach Tieren, sondern in sogenannten «Grossvieheinheiten» und an einem Stichtag. Tatsächlich können nur etwa 15 Prozent aller Tiere ins Freie. Alle anderen Tiere verbringen ihr Leben ohne jede Möglichkeit, ihr Bedürfnis nach Auslauf auszuleben.

Doch Tiere sind fühlende Lebewesen. Sie haben Bedürfnisse, die weit über Futter und Pflege hinausgehen. Sie wollen sich bewegen, ihre Umgebung erkunden, frische Luft atmen und Sozialkontakte pflegen. Für sie bedeutet der Zugang ins Freie Lebensqualität – ebenso selbstverständlich, wie er es für uns Menschen wäre. Tiere, die sich frei bewegen können, sind sozial aktiver, verletzen sich seltener und zeigen weniger Verhaltensstörungen.

Hier setzt die Auslauf-Initiative an. Sie fordert, dass alle landwirtschaftlich gehaltenen Tiere in der Schweiz regelmässig Zugang ins Freie erhalten – und dass dieser Anspruch als Grundsatz in der Bundesverfassung verankert wird. Grundbedürfnisse wie Bewegung, Licht und frische Luft sollen nicht länger von der Freiwilligkeit einzelner Betriebe abhängen, sondern gesetzlich garantiert sein.

Die Initiative ist in der Form einer allgemeinen Anregung gestellt. Das bedeutet: Sie schreibt keine Detailvorschriften vor, sondern gibt dem Parlament den Auftrag, eine praxisnahe, sozialverträgliche und wirtschaftlich tragbare Umsetzung zu erarbeiten. Damit unterscheidet sie sich von früheren Initiativen: Sie ist nicht dogmatisch, sondern konstruktiv. Sie schafft Raum für Lösungen, die sowohl den Bedürfnissen der Tiere als auch den Herausforderungen der Landwirtschaft gerecht werden.

Ein Projekt mit breiter Unterstützung

Hinter der Initiative steht ein starkes Bündnis: Sentience, KAGfreiland, Tier im Recht und VIER PFOTEN. Gemeinsam setzen sich die Organisationen dafür ein, dass die Schweiz ihrem eigenen Anspruch gerecht wird – nämlich eine Landwirtschaft zu fördern, die Tiere respektiert und nachhaltige Zukunftsperspektiven schafft. Dieses Anliegen ist realistisch genug, um umsetzbar zu sein, und gleichzeitig ambitioniert genug, um einen echten Unterschied zu machen.

Die Auslauf-Initiative ist kein Angriff auf Bäuerinnen und Bauern – im Gegenteil. Viele Betriebe bieten ihren Tieren bereits heute Auslauf und investieren Zeit, Geld und Engagement in tierfreundliche Haltungssysteme. Diese Betriebe sollen gestärkt und fair entlohnt werden. Die Initiative fördert die Glaubwürdigkeit des Schweizer Tierschutzstandards und schützt ihn vor einem Preiswettbewerb mit Billigimporten aus dem Ausland, die unter deutlich schlechteren Bedingungen produziert werden.

Die Auslauf-Initiative ist ein Schritt, der zeigt: Wir können Tierwohl ernst nehmen, ohne die Landwirtschaft zu überfordern. Wir können Fortschritt gestalten, ohne neue Gräben zu schaffen.

Es ist Zeit, die Tiere rauszulassen.

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