Wir brauchen ein starkes Gegengewicht
Die grossen Sitzgewinne der Agrarlobby bei den Parlamentswahlen im Herbst 2023 rückten eine zukunftsfähige Schweizer Landwirtschaft mit standortangepasster Lebensmittelproduktion in noch fernere Zukunft. Der Verlust für die Grünen – insbesondere die Abwahl von Meret Schneider, der bisherigen Grünen-Nationalrätin und grössten Stimme der Tiere im Parlament – lassen für den verfassungsrechtlichen Schutz von Tieren und Umwelt nichts Gutes erahnen.
Bereits in der letzten Legislatur wurden die Partikularinteressen des Bauernverbands regelmässig auf Kosten von öffentlichen Interessen und Verfassungsprinzipien, wie dem Schutz der Tierwürde und der Ernährungssicherheit (allen voran der standortangepassten Lebensmittelproduktion), begünstigt. Der Erfolg der Bauernlobby in landwirtschaftlichen Abstimmungskämpfen ist vor allem eines: das Ergebnis sehr gut finanzierter (Gegen-)Kampagnen mit enormer Reichweite. Diese finanzielle Überlegenheit stellt spendenfinanzierte Tier- und Umweltschutzorganisationen in den Schatten. Zudem sind Einschüchterungsversuche gegenüber progressiven Landwirt:innen nach wie vor an der Tagesordnung. Die durch hohe Subventionen kreierten Fehlanreize haben dazu geführt, dass der Status Quo, und sei er noch so untragbar, mit allen erdenklichen Mitteln verteidigt wird.
So wird der in der Schweiz noch immer vorherrschende Glaube an das Bauernidyll durch staatlich in Millionenhöhe unterstützte Fleisch- und Milchwerbung hartnäckig aufrechterhalten. Die Kuh Lovely von Swissmilk erzählt von klimafreundlichen horntragenden Milchkühen im Freien, Proviande porträtiert in seinen Werbespots Familienbetriebe mit wenigen Tieren auf gut eingestreuten Stallböden. So wird das Gewissen der Konsument:innen mit Halb- und Nichtwahrheiten beruhigt, während die Biodiversität hierzulande weiter abnimmt, wir mittlerweile zu den grössten Ammoniak-Emittenten Europas gehören und Tiere, die mit importiertem Kraftfutter gemästet werden, als «Schweizer Fleisch» im Kühlregal landen. Diese Schönmalerei lenkt von der systematischen Missachtung der Tierwürde in der Landwirtschaft ab und bedroht langfristig unsere Lebensgrundlage.
Es ist ernüchternd, dass der Bundesrat nicht korrigierend eingreift, sondern im Gegenteil teilweise zur Irreführung der Bevölkerung beiträgt. So schrieb er im Abstimmungsbüchlein im Vorfeld der Initiative gegen Massentierhaltung, dass stolze 78 Prozent der Schweizer Tiere in der Landwirtschaft Zugang ins Freie hätten. In einer Fussnote hielt er ein vermeintlich unwichtiges Detail fest – nämlich, dass er diesen Anteil nicht pro Tier, sondern pro Grossvieheinheit berechnet hatte. Es dürfte den meisten Bürger:innen nicht bewusst gewesen sein, dass eine Grossvieheinheit bspw. einer Kuh oder 250 Mastpoulets entspricht. Mit diesen trügerischen Erläuterungen konnte der Bundesrat die unangenehme Tatsache unerwähnt lassen, dass tatsächlich nur 13 Prozent aller Tiere in der Landwirtschaft jemals den Himmel sehen.
Diesen Missständen kann nur mit einem starken Bündnis von Tierschutz-, Tierrechts-, Umwelt- und Landwirtschafts-Organisationen begegnet werden, die für eine tragfähige, tier- und umweltfreundliche Schweizer Landwirtschaft einstehen. Auch wenn es nicht einfach ist, müssen hierfür ideologische Gräben überwunden und gemeinsame Ziele gesetzt werden. Nur so lässt sich annähernd ein spürbares Gegengewicht zur mächtigen «Geld und Gülle»-Allianz zwischen dem Bauernverband und den Wirtschaftsverbänden aufbauen. Immerhin zeigt dieses unwahrscheinliche Bündnis vor, wie sich gemeinsame Sache machen lässt – selbst wenn die einzelnen Organisationen grundlegend unterschiedliche Zielsetzungen haben.