Die Tierzahlen müssen sinken

Wenn die Schweiz Probleme wie Umweltbelastung, Treibhausgasemissionen und Biodiversitätsverlust ernsthaft angehen will, darf sie sich einer Diskussion um den Konsum von Tierprodukten nicht entziehen. Was es braucht, sind systemische Lösungsansätze. Einer davon ist das 3R-Prinzip.

Seit Jahren drehen wir uns im Kreis: Der aktuellste IPCC-Report, Expert:innenpanels an internationalen Konferenzen und selbst Bundespublikationen sprechen die Problematik offen an – wir essen zu viele Tierprodukte. Bereits 2018 illustrierte eine Studie von Agroscope, dass eine Halbierung unseres Tierproduktekonsums die Umweltbelastung unserer Ernährung in der Schweiz um bis zu einem Drittel senken kann. Eine rein pflanzliche Ernährung würde die globalen ernährungsbedingten Treibhausgasemissionen halbieren und die für die Landwirtschaft beanspruchte Landnutzung um drei Viertel reduzieren. 

Die Faktenlage ist also klar: Der Pro-Kopf-Konsum von Fleisch, Fisch, Eiern und Milchprodukten in der Schweiz muss sinken, wenn wir die von uns ratifizierten Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 erreichen möchten. Die Politik und in den Status quo investierte Interessenverbände reagieren auf diese Tatsache üblicherweise mit partieller bis kompletter Realitätsverweigerung.

Die Zeit ist reif für einen Richtungswechsel: Wir müssen über eine massive Reduktion der Tierzahlen sprechen. Und weil sich ein komplexes Gebilde wie das Ernährungssystem nicht mit linearen Lösungsansätzen auf Symptomebene reformieren lässt, müssen wir systemisch denken. Dazu gehört eine Vision, die eine stetige Verbesserung des aktuellen Systems beinhaltet, die Senkung des Pro-Kopf-Konsums problematischer Produkte anstrebt und mittelfristig darauf hinarbeitet, diese Produkte gänzlich zu ersetzen. Das aus der Forschung bekannte 3R-Prinzip agiert auf all diesen Ebenen und ist deshalb für die Anwendung in der Landwirtschaft ideal geeignet.

Bereits heute kommt das 3R-Prinzip in der Schweiz bei Tierversuchen zur Anwendung. In der Wissenschaft besteht breiter Konsens darüber, dass die Forschung an Tieren schwierige ethische Fragen aufwirft. Aus diesem Bewusstsein heraus sind Regeln entstanden, deren Anwendung zu einem spürbaren Rückgang an Tierversuchen geführt haben. Die wichtigste Regel lautet, dass es nur dann erlaubt ist, ein Tier zu schädigen, wenn nachgewiesen werden kann, dass keine valablen Alternativen zur Verfügung stehen. In der Landwirtschaft werden jedoch Millionen gesunder Tiere nach einem Bruchteil ihrer Lebenserwartung getötet, ohne dass dafür der geringste Nachweis der Alternativlosigkeit erbracht werden muss. Das schadet nicht nur den Tieren, sondern auch unserer Umwelt.

Das 3R-Prinzip – Refine, Reduce, Replace – tangiert unseren Konsum und die Tierwürde gleichermassen, sobald es auf die landwirtschaftliche Praxis angewandt wird: Die Haltung von Tieren soll weniger leidvoll sein (Refine), der Konsum von Tierprodukten und die Anzahl gehaltener Tiere soll quantitativ verringert (Reduce) und – wo möglich – zwingend durch Alternativen ersetzt werden (Replace).

Der Status quo ist besonders stossend, weil im Landwirtschaftsbereich viel weniger auf dem Spiel steht als in der Forschung. Die Entwicklung neuer Medikamente rettet möglicherweise unzählige Leben, während es beim Konsum von Tierprodukten vor allem um ein kurzzeitiges Geschmackserlebnis geht. Wenn es also eine Pflicht gibt, Alternativen zu Tierversuchen zu suchen, dann sollte diese Pflicht in der Landwirtschaft umso stärker sein. 

Einschneidende Massnahmen sind hierzulande aktuell nicht absehbar. Die eidgenössische Initiative gegen Massentierhaltung, die im September diesen Jahres zur Abstimmung kommt, ist das aktuelle Schweizer Leuchtturmprojekt, das mit seiner Zielsetzung ein gutes Beispiel für einen geeigneten Refine-Ansatz aufzeigt. Doch ein wirklich nachhaltiger Wandel muss noch weiter gehen. Wenn der Bundesrat es mit der Bekenntnis zu mehr Nachhaltigkeit ernst meint – wie er es beispielsweise in seiner «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» skizziert – dann müssen griffige Massnahmen auf Systemebene folgen, die die fortlaufende Intensivierung der Landwirtschaft nicht nur unterbinden, sondern rückgängig machen. Dazu gehören eine fundamentale Neugestaltung der Subventionspolitik, staatliche Interventionen zur Steuerung eines nachhaltigeren gesellschaftlichen Konsumverhaltens und eine Anerkennung der bereits heute in der Verfassung verankerten Tierwürde – wir müssen das Verständnis von Tieren als empfindungsfähige Individuen und nicht als ökonomische Ressource ins Zentrum von Denken und Handeln rücken. 

Viel Zeit bleibt nicht: Im September 2015 hat sich die Schweiz verpflichtet, die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erfüllen. Aktuell würden wir sämtliche umweltrelevanten Ziele verpassen. Einer der Hauptgründe? Die Landwirtschaft.

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